Familie Sterneck

Rede von Esta Sterneck, einer Enkelin von Margarethe und Berthold Sterneck

Ich bin die zweite Tochter von Kurt Sterneck. Ich schließe mich all dem, was meine Cousine gerade gesagt hat an und danke in unserem Namen auch besonders Frau Dr. Knobloch für die große Ehre, dass sie heute hier ist, und für ihre bewegenden Anmerkungen.

Außerdem möchte ich meinem Cousin Peter ganz danken, dass er beim Organisieren des heutigen Tages so effizient für uns alle Fäden in der Hand hielt.

Margarethe und Berthold Sterneck kennenzulernen war uns verwehrt. Wofür ich ihnen dankbar bin, sind ihre Werte und guten Charaktereigenschaften, von denen ein oder zwei sich vielleicht bei mir erhalten haben. Der enge Zusammenhalt unserer kleinen Familie, die jetzt auf drei Länder verteilt ist, ist sicher auch eines ihrer Vermächtnisse.

Seltsamerweise war Dankbarkeit tatsächlich das Gefühl, dass sich mir während der Vorbereitungen für heute am häufigsten aufdrängte. Vielleicht nicht wirklich seltsam, denn angesichts der Schicksale meiner Großeltern – und Eltern – kann ich nichts als dankbar sein für den Frieden und die unbegrenzten Freiheiten meines Lebens, in dem es kein Kunststück sein sollte, etwaige Unannehmlichkeiten relativ gelassen zu nehmen. 

Meine Familiengeschichte illustriert die Absurdität, dass Religionen und Nationalitäten für so viel Elend verantwortlich sein können.
Meine ältere Schwester war nach Margarethe Sterneck benannt. Mein Vorname war der Künstlername von Bertholds erster Frau. Aus dem ersten Weltkrieg zurück, hatte er die angehende Opernsängerin an der Oper in Graz kennenlernte. Im Jahr 1918, stand einer Heirat ihre jeweilige Religionszugehörigkeit im Weg; Esta war katholisch. Beide konvertierten also zur Evangelischen Kirche, wie auch später Margarethe. Im Sommer 1919 kommt Sohn Kurt auf die Welt, wenige Monate später stirbt Esta an Tuberkulose.

Berthold hat großes Glück, an der Oper in Prag Margarethe Guttmann kennenzulernen. Margarethe wird eine liebevolle Mutti für Kurt. Von Bertholds jüdischer Familie in Wien wissen wir fast gar nichts. Wir können nur vermuten, dass die Verbindung mit Esta zum Ausschluss aus der Familie geführt hat.  Über meine katholische Mutter wurde ich katholisch aufgezogen. Vor diesem Hintergrund war mir immer klar, dass Religionszugehörigkeit kein akzeptabler Maßstab für menschliche Werte ist.  Was auch zeigt, wie wichtig es ist, über das Vergangene informiert zu werden, wie es die Erinnerungszeichen tun.

Ich bin mir nicht sicher, dass unsere Großeltern damit einverstanden gewesen wären, dass sie und ihr Schicksal so in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden. Für uns noch Lebende ist es jedoch weitaus wichtiger, mit allen Mittlen gegen das Vergessen anzukämpfen.
Die Erinnerungszeichen inmitten eines Wohnviertels zeigen auf, wie ganz normale Nachbarn grundlos schikaniert und in den Tod getrieben wurden, weil ein Genie des Wahnsinns auch nur einen Teil der Bevölkerung in seinen Bann schlagen konnte.

Nicht nur Juden wurden von den Nazis verfolgt, sondern alle, die irgendwie nicht in ihr „reines Rassenbild“ passten. Heute können wir feiern, dass die Nazis nicht das letzte Wort hatten, und die Anwesenden hier die Vielfalt der Menschheit, die heute die Bevölkerung in Deutschland darstellt, zumindest teilweise repräsentieren. Täglich werden wir aber daran erinnert, wie fragil diese Errungenschaft ist.

Während staatlich organisierter Mord das Nonplusultra des Bösen ist, hat „Verfolgung“ von Bevölkerungsgruppen viele verschiedene Gesichter. Ausgrenzung und selbst „kleine“ Schikanen können das Leben unerträglich machen. Mein Vater schrieb 1946 an seine Schwester Hanni: „Unser lieber Vati ...ertrug alles wie ein alter Soldat. Bedauerte lieber andere als sich selbst, und behielt immer noch seinen Humor. Mutti nähte Hausschuhe und hatte dabei das Glück zuhause arbeiten zu können. Die Schikanen, die jüdischen Lebensmittelkarten, der Stern usw. alles ertrugen sie mit einer unglaublichen Ruhe und einem nicht unterzukriegenden Optimismus. Vati lernte trotz der schweren Arbeit abends weiter Italienisch und Englisch, las Dante, Dickens usw...“

In Nazideutschland war mein Vater Kurt „Mischling ersten Grades“– so wie „Halbjude“, ein für mich prinzipiell absurder Begriff. Vom österreichischen Militärdienst kam er direkt in den zweiten Weltkrieg. Sein Dienst war ein Schutzschild für seine Eltern. Zweimal konnte die Entlassung auf Grund seiner Abstammung abgewendet werden, durch den Einsatz Vorgesetzter bzw. die freiwillige Meldung an die Russische Front. 1943 wurde er verwundet und endgültig ausgeschlossen.

Sein Ansuchen bei der Gestapo, die drohende Deportation Margarethes abzuwenden, war diesmal erfolglos. Wenig später wurde auch er verhaftet und kam über Dachau – bis zur Befreiung durch die Amerikaner – in ein Arbeitslager. Meine Mutter und ihre Familie hingegen waren deutschstämmige Flüchtlinge aus Böhmen.
Dieser Kontrast hielt sie nicht davon ab, zusammen ein neues Leben in Deutschland und Österreich aufzubauen. Mein Vater wurde Ingenieur, wechselte aber bald zur Bühne als Schauspieler, Regisseur und Hochschul-Professor für Darstellende Kunst.
Wie hart die ersten Zeiten waren, wurde uns nur vage und indirekt vermittelt.

Viel Böses war geschehen, aber viele hatten auch versucht, Gutes zu tun. Wir wollen einiger derer gedenken, die das Gute gewagt haben. Die Unbekannten, die die Großeltern auf der Straße mit Handdruck begrüßten, um ihnen heimlich Lebensmittelkarten zukommen zu lassen. Die Ärzte, die sich um den schwerkranken Berthold kümmerten. Der Freund, der Margarethe vor dem drohenden Transport nach Theresienstadt warnte. Die weit-entfernten Verwandten der ersten Frau Bertholds, die Margarethe in ihr vorletztes Versteck aufnahmen. Es freut uns besonders, dass ein Enkel dieser mutigen Leute heute hier ist. Die beherzten Frauen im Pfarrhaus Schwenningen, die nicht verhindern konnten, dass Margarethe ihrem Leben im Februar 1945 ein Ende setzte. Der amerikanische Teenager, der Berthold 1938 kennenlernte und sich in Amerika tatkräftig, wenn auch erfolglos, um eine Einwanderungsbewilligung für die Großeltern bemühte. 

Auch mein Vater hatte den großen Wunsch nach Amerika auszuwandern. Aus verschiedenen Gründen kam es nicht dazu.
Fast ein halbes Jahrhundert später, hatte ich keine Probleme ein Berufsvisum für Amerika zu bekommen. Was ein kurzer Aufenthalt sein sollte, wurde zur Auswanderung. Ich lernte dort meinen Mann kennen. Er ist Italiener. Ich Österreicherin. Beliebte Ausflugsziele in Linos norditalienischer Heimat sind Parkanlangen mit Monumenten zur Erinnerung der Gefallenen der Kriege zwischen unseren Ländern.
Zurzeit ist es unvorstellbar, dass es in der Zukunft einmal solche Ausflugsziele in der Ukraine geben wird. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, aber wie viele Generationen wird es dauern müssen?

Und Berthold und Margarethe Sterneck haben nun zwei amerikanische Urenkel.
Das Wort „Rasse“ ist auf Deutsch ein Unwort; in Amerika ist es in aller Munde. 1945 herrschte dort noch Rassentrennung und Lynchmorde an Schwarzen wurden oft nicht aufgeklärt. Auch Juden waren halb-offiziell ausgegrenzt. 

Es dauerte viele Jahre, bis ich mich daran gewöhnt hatte in jedweden Formularen meine Rassenzugehörigkeit zu erklären. Ich bin „Weiß“ und „nicht hispanisch“. Als großen Fortschritt gibt es seit kurzem nun auch die Option „nicht definiert“. Im Gegensatz zum Deutschen Reich damals, dient diese Frage in Amerika heute der Verhinderung von Rassendiskriminierung. Gleichzeitig illustriert sie aber nicht nur, dass ich nun zur "privilegierten Rasse“ gehöre, sondern auch eine Realität, die kontinuierlich für Zündstoff sorgt.
Ich habe aber Hoffnung. Meine Kinder gehen in eine städtische Schule, in der Weiße in der Minderheit und sexuelle Identität und Orientierung keine Konfliktthemen sind. Sie sind dankbar, dass sie auch dadurch gelernt haben, das Wunderbare an der Vielfalt der Menschheit wertzuschätzen.

Manche amerikanischen Studien zeigen, dass Kinder, die über die Versklavung der Afrikaner und Misshandlung der Schwarzen lernen, ein besseres Verhältnis zu Menschen anderer Abstammung entwickeln. Diese Schulprogramme werden jetzt wieder mancherorts erfolgreich verhindert. Amerika steht auf einer gefährlichen Kippe.
Deutschland wird manchmal als gutes Beispiel aufgeführt, wo die offizielle Annahme von Schuld zu einer besseren Vergangenheitsbewältigung führte als in Amerika. Dass der Retter Amerika von Deutschland lernen könnte, ist eine gewagte Hypothese. Deutschland hat neue Herausforderungen. Aber Kenntnis der Geschichte, aktive Bemühungen gegen das Vergessen mit bewusster Erinnerung an jegliche Art der Unmenschlichkeit sollen dazu beitragen, dass Frieden zwischen Menschen und Völkern erhalten bleibt.

In diesem Sinne, möchte ich jetzt mit einer letzten Danksagung schließen.
Wir danken Ihnen allen von Herzen dafür, dass Sie gekommen sind, um hier mit uns das Leben von Margarethe und Berthold Sterneck zu ehren, und mitzuhelfen, gegen das Vergessen anzukämpfen.
Und somit wollen wir jetzt zusammen zum Presselweg 1 gehen. Wer den kurzen Weg zu Fuß machen kann, möge uns folgen. Hinterher kann, wer mag, noch mit uns in der Cantina der Fabrik zusammensitzen.

 


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