Rede von Doris Barth, gehalten am 20.11.1025 in der Gedenkveranstaltung am
Leeren Stuhl am Pasinger Rathaus
Das Kinderheim der Gretl Bauer-Elkan in Neu-Esting
Ein Zufluchtsort für jüdische Schüler aus Pasing und München
Wenn man zu jüdischen Schülern und ihren Schicksalen im Dritten Reich an Pasinger Schulen, z. B. am Humanistischen Gymnasium mit Realschulzweig, recherchiert,erweist sich das als äußerst schwierig. Denn es gab hier sehr wenige jüdische Schüler, und zudem fehlen in den Personalakten eindeutige Merkmale, um sie von anderen Schülern zu unterscheiden. In einigen Fällen ist die Religionszugehörigkeit „mosaisch“ oder „israelitisch“ angegeben, in anderen wird sie vermieden oder nur angedeutet, vermutlich abhängig von der politischen Einstellung des jeweiligen Klassleiters.
Umso unmissverständlicher waren die Bestimmungen des Reichserziehungsministeriums, die schon bald nach der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 verordnet wurden. Mit Inkrafttreten des „Gesetzes gegen die Überfüllung an deutschen Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 wurden die Schulleiter der weiterführenden Schulen unter § 4 angewiesen: „Bei den Neuaufnahmen von Schülern ist darauf zu achten, dass die Zahl der Reichsdeutschen, die ... nichtarischer Abstammung sind, unter der Gesamtheit der Besucher jeder Schule ... den Anteil der Nichtarier an der reichsdeutschen Bevölkerung (d.i. 1,5%) nicht übersteigt ... Abkömmlinge aus Ehen jedoch, die vor dem 26. April 1933 geschlossen wurden, sind wie Arier zu behandeln, wenn auch nur ein Elternteil oder zwei Großeltern arischer Abkunft sind.“
In den Schulakten des Pasinger Gymnasiums ist dazu eine handschriftliche Berechnung des Schulleiters oder seines Stellvertreters „600:9“ vermerkt. Es handelt sich dabei offensichtlich um die zulässige Höchstzahl von „nichtarischen“ Schülern, nämlich neun, bei einer Gesamtschülerzahl von 603 zu Beginn des Schuljahres 1933/34. Die prozentuale Beschränkung bei Neuaufnahmen wurde somit unterschritten, denn es werden die Namen von nur sechs Schülern mit dem Vermerk „nichtarisch“ aufgeführt. Drei davon sind mit Fragezeichen versehen, vermutlich, weil sie „Mischlinge 1. Grades“ waren, d.h. einen arischen Elternteil hatten und somit nicht unter die Quote fielen, oder weil die Religionszugehörigkeit mit „frr.“ = freireligiös bezeichnet ist.
Bei zweien dieser Schüler ist als Wohnort (Neu-)Esting, ein Dorf im Westen von München, angegeben, nämlich bei
Spielmann Gerhard, geb. am 07.02.23, Konf. isr., Stand und Wohnort der Eltern: Diplom-Kaufmann, München. Er war vom 01.09.1933 bis zum 05. 03. 1936 Schüler der Realklasse am Humanistischen Gymnasium Pasing, und
Holzmann Hermann Albert., geb. am 19.6.23, Konf. frr., Stand und Wohnort der Eltern: Großkaufmann †, München. Er ist Schüler der Realklasse 1b und wird im Jahresbericht nur im Schuljahr 1933/34 geführt.
Das Kinderheim der Gretl Bauer-Elkan in Neu-Esting
Der Wohnort der Schüler führte mich bei meiner Recherche zum privaten Kinderheim in Neu-Esting, dessen Geschichte dank mehrerer lokaler Historiker gut erforscht ist. Es wurde 1911 von dem Ehepaar Josef und Elise Elkan gegründet; das pädagogische Konzept war anthroposophisch beeinflusst, d.h. die Erziehung zu Individualität und Toleranz stand im Mittelpunkt, ebenso wurde großer Wert auf die Ausbildung musischer und praktischer Fähigkeiten gelegt. Das Haus, aufs modernste eingerichtet, lag in einem riesigen Park mit Spiel- und Sportanlagen, die Amper als Bademöglichkeit war nicht weit. Für das Aufwachsen der Kinder in idyllischer ländlicher Umgebung bei gleichzeitiger Nähe zur Großstadt München mit Eisenbahnverbindung bot Neu-Esting ideale Voraussetzungen. Bis Ende der zwanziger Jahre wurde nur eine kleine Gruppe von ca. zehn Vorschulkindern aufgenommen, wodurch auch die angestrebte familiäre Atmosphäre geschaffen wurde. Der hohe Pensionspreis von 100 bis 130 Mark pro Monat brachte es mit sich, dass vorwiegend Kinder aus „besseren Kreisen“ kamen.
Nach dem Tod ihrer Eltern übernahm die älteste Tochter, Gretl Elkan, später verh. Bauer, 1925 die Leitung des Heimes. Nach und nach wurden auch Schulkinder aufgenommen, die entweder die örtliche Volksschule besuchten oder Privatunterricht erhielten; viele Kinder kamen allerdings nur während der Sommerferien. Wirtschaftlich trug sich das Kinderheim trotz des hohen Preises von Anfang an nicht, weil die Zahl der „Zöglinge“ für die laufenden Kosten zu niedrig war.
Mit dem nationalsozialistischem Regime 1933 begannen für das Kinderheim und seine Leiterin Schwierigkeiten noch ganz anderer Art. Das liberale Erziehungskonzept sowie die großzügige Anlage des Kinderheims erregten den Unwillen und Neid der lokalen bzw. regionalen Machthaber. Mit allen Mitteln übten Partei und staatliche Stellen massiven Druck aus, um Frau Bauer zur Schließung des Heimes und zum Verkauf des Hauses zu zwingen. Das Hauptargument gegen sie war, dass sie als „Nichtarierin“ – ihr Vater war Jude – nicht dazu geeignet sei, ein Kinderheim mit „arischen“ Kindern zu leiten, obwohl man ihr keine fachlichen Fehler nachweisen konnte.
Aufgrund dieser Umstände entschloss sich Frau Bauer 1936, aus ihrem Haus ein Kinderheim ausschließlich für jüdische Kinder zu machen, nachdem sie bereits seit 1933 immer mehr „nichtarische“ Kinder aufgenommen hatte. Damit gab sie zwar das Prinzip auf, das Heim für alle Kinder ohne Ansehen der Religion oder Abstammung offen zu halten, bot aber den nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im September 1935 immer mehr isolierten und ausgestoßenen jüdischen Kindern aus ganz Deutschland eine Zufluchtsstätte. Die Zahl der Heimplätze erhöhte sich bis auf 24. Kurzfristig wurde die Umwandlung des Kinderheims in eine jüdische Institution von den zuständigen Behörden sogar begrüßt, da die „rassische Trennung“ von „Ariern“ und „Nichtariern“ die erste Stufe der Vernichtungspolitik war. Bald jedoch setzten die früheren Schikanen in verstärkter Form ein, die die Schließung der Institution zum Ziel hatten.
Gerhard Spielmann - Heimkind in Neu-Esting und Schüler in Pasing
Die jüdischen Geschwister Gerhard Spielmann und seine jüngere Schwester Ruth aus München waren spätestens seit September 1933 im Kinderheim Neu-Esting untergebracht, nachdem ihre Mutter ins Exil nach Argentinien vorausgegangen war. Das erklärt auch, warum sie eine andere Adresse als der Vater hatten, der noch in München gemeldet war. Siegfried Spielmann führte zusammen mit seinem Bruder Hermann weiterhin die gemeinsame Herren- und Knabenkonfektionsfirma Elko in der Neuhauser Straße 1 und im Färbergraben 35 in München. Bis ihre Papiere für die Auswanderung fertig waren, wurden Gerhard und Ruth bei Gretl Bauer in relativer Sicherheit betreut. Viele Eltern mussten das Geld für die Unterbringung schuldig bleiben, weil die immens hohen Sondersteuern für die Auswanderung ihre letzten finanziellen Reserven aufbrauchten.
Gerhard fuhr von der Bahnstation Olching täglich nach Pasing ins Gymnasium am Stadtpark, das er seit dem 01. 09. 1933 mit dem Eintritt in die Klasse 1b besuchte. Er hatte nach fünf Monaten an der Luitpold-Oberrealschule in Bogenhausen, wo auch die Wohnung der Familie Spielmann lag, an die Pasinger Schule gewechselt, weil sie vom Kinderheim die nächstgelegene Höhere Schule war. Der Klassleiter Hoffmann bescheinigte ihm im Jahreszeugnis der Klasse 1b in der besonderen Schulzensur unter „b) Geistige Anlagen und ihre Verwertung“: „Ziemlich gut begabt, ängstlich.“ Im zweiten Schuljahr schreibt er zu b): „die Ängstlichkeit ist völlig gewichen.“
Ruth besuchte die Dorfschule in Neu-Esting. Auf Klassenfotos kann man die Heimkinder zwischen den einheimischen Kindern aufgrund ihrer städtischen Erscheinung sofort ausmachen. Im Winter 1935/36 waren Gerhard und Ruth Spielmann die einzigen Kinder im Heim und bewahrten es höchstwahrscheinlich vor der Schließung. Wie sie sich da in dem großen Haus gefühlt haben mögen?
Gretl Bauer vertrat Elternstelle bei den Heimkindern. Das belegt auch die Korrespondenz mit dem Pasinger Gymnasium: Sie überwies das noch ausstehende Schulgeld Gerhard Spielmanns per Postscheck, meldete ihn am 04.03. 1936 vor der Auswanderung nach Buenos Aires schriftlich ab und bat „höflichst um die Ausstellung eines Übertrittszeugnisses für die dortige deutsche Schule. Mit deutschem Gruß!“ Am 05.03.1936 wurde der offizielle Austritt des Schülers in den Schulakten bestätigt, die Emigration der Familie Spielmann erfolgte am 13. 03.1936.
Ungeklärter Sachverhalt bezüglich des Schülers Hermann Albert Holzmann
Die Recherche im Fall des „nichtarischen“ Schülers „Hermann Albert Holzmann“ aus Neu-Esting gestaltete sich schwierig. In der Liste der Heimkinder taucht sein Name nicht auf, wohl aber in den örtlichen Polizei-Protokollen über das Kinderheim. Da heißt es unter dem Datum vom 18.07.1932:
„Frau Bauer-Elkan an das `löbl. Bezirksamt:
Anmeldungen: ... Holzmann, Herbert (9 J.)
Holzmann, Gustav (8 J.) ...“
Sonst enthält der Eintrag keine Daten. Immerhin könnte es sein, dass Frau Bauer bei der Anmeldung den Vornamen Hermann versehentlich mit Herbert angegeben hat, denn das Alter von Hermann Albert und Herbert Holzmann in den Schulakten stimmt überein, beide sind 1923 geboren.
Die Schließung des Kinderheims und ungeklärte Schicksale von Heimkindern
Nachdem das Kinderheim zwischenzeitlich auch als Ausbildungsstätte für jüdische Landwirtschaftslehrlinge und Schullandheim für die Jüdische Volksschule München diente, meldete Gretl Bauer nach dem Novemberpogrom „offiziell meinen Kinderheimbetrieb als Gewerbe ab.“ Die Fenster des Hauses waren eingeschlagen worden, die Außenwände mit Naziparolen vollgeschmiert. Sie hatte den Kampf gegen die Willkür des mörderischen Regimes nicht gewinnen können. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus der deutschen Wirtschaft vom 12.11.1938“ wurde die Vernichtung aller jüdischen Betriebe endgültig besiegelt. Immerhin konnte Gretl Bauer Haus und Grundstück vor Beschlagnahme und Enteignung retten und 1946 ihr Kinderheim wieder eröffnen. Sie begründete nach dem Krieg auch die Volkshochschule im Landkreis Fürstenfeldbruck.
Was geschah mit den jüdischen Kindern, nachdem sie spätestens im November 1938 das Kinderheim verlassen hatten? Der Historiker Tobias Weger hat Daten von 42 Kindern, die von Juni 1937 bis zur Schließung des Heims dort lebten, in den erhaltenen Akten, vor allem aus dem Staatsarchiv München, zusammengestellt. Von diesen Kindern und Jugendlichen wurden acht deportiert und ermordet.
In Kaunas wurden zwei Geschwisterpaare aus München zusammen mit ihren Eltern erschossen:
Jeanette Kiesler (*1934, Schülerin) und ihr Bruder Fritz (*1936) und
Richard Schönmann (*1921, Student) und seine Schwester Frieda Lotte (*1926, Schülerin)
Auch ihrer wollen wir heute gedenken.
Zehn der Heimkinder konnten mit ihren Eltern emigrieren, über das weitere Schicksal von 24 Kindern wurde nichts gefunden.
Über die Familie Spielmann im argentinischen Exil ist ebenfalls nichts bekannt. Dank der Recherchen von Michael Mayer, Abiturient des Jahrgangs 1998 am Karlsgymnasium in München-Pasing, liegt der Inhalt der Akte Gerhard Spielmann im Landesentschädigungsamt von Bayern vor. Danach stellte er 1957 einen Entschädigungsantrag wegen Schaden während der Ausbildung und Hinderung am beruflichen Fortkommen. Aus der Akte geht jedoch nicht hervor, ob seine Ansprüche anerkannt wurden.
Quellen:
- Schulakten im Archiv des Karlsgymnasiums München-Pasing
- John L. Englander, N.Y. (ehem. Heimkind), Zwei Briefe an Tobias Weger, 10.01. u. 04.02.1998 und vier Fotos
- Michael Mayer, Inhalt der Akte des LEA von Gerhard Spielmann
- Bernhard Möllmann, Bilder vom alten Pasing, Bd. 2. Pasinger Album, München 2004
- Bernhard Möllmann, Recherchen zu „nichtarischen“ Schülern am Humanistischen Gymnasium Pasing mit Realschule, unveröffentlicht
- Christine Müller, Das Kinderheim Neu-Esting, Amperland 1992/1
- Polizei-Protokolle über das Kinderheim Neu-Esting/Gretl Bauer (Auszüge) LRA FFB 11719
- Anselm Roth, Schutz vor Schikanen. Das Heim der jüdischen Kinder in Neu-Esting, SZ v. 12/13.10.1991
- Fritz Scherer, Mehrere Zeitungsartikel über das Kinderheim Neu-Esting und Gretl Bauer in SZ, BE, MM und BILD 1988 – 2004
- Wolfram Selig, „Arisierung“ in München, Berlin 2004, S. 210 ff, recherchiert von Almuth David
- Tobias Weger, Juden in Olching und Esting, 1900 – 1950, Amperland 1998/1 und 1998/2
Entscheidende Anstöße und Hilfe bekam ich bei meinen Recherchen über die jüdischen Schüler von Bernhard Möllmann (+).
Grundlegende Informationen über das Kinderheim in Neu-Esting entnahm ich den Arbeiten von Christine Müller, Fritz Scherer und Tobias Weger.
Almuth David lieferte die Daten über die Familie Spielmann in München.
Doris Barth (Recherche von 2007)
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