Zeitliche Eingrenzung

Der zeitliche Rahmen unserer Spurensuche reicht vom letzten Viertel des 19.Jahrhunderts bis in die Siebziger-Jahre des 20. Jahrhunderts. Für die Zeit davor konnten wir keine Hinweise finden, dass Juden in Pasing, Obermenzing und Aubing gelebt oder sich in einem bemerkenswerten Umfang wirtschaftlich betätigt haben. Dieser Umstand dürfte seine Erklärung finden in dem restriktiven bayerischen Judenedikt von 1813 mit seinem bis 1861 geltenden Matrikelparagraphen, der eine Niederlassung von Juden in vielen bayerischen Orten unmöglich machte. Erst mit der völligen rechtlichen Gleichstellung der Juden im gesamten Deutschen Reich im Jahr 1871 war daher auch ein Zuzug von Juden in die Gemeinden des Münchner Westens möglich geworden. Die Aufhebung der rechtlichen Schranken der jüdischen Bevölkerung vollzieht sich parallel zu und teilweise verschränkt mit einem anderen historischen Prozess: der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft in Deutschland, für die beispielhaft auch die Entwicklung des Bauerndorfes Pasing zu einer Stadtgemeinde am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert steht.

In den Jahrzehnten vor 1933 waren Juden oder Menschen mit jüdischen Wurzeln in vielfältiger Weise am wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Leben Deutschlands beteiligt. Auch wenn nach wie vor Antisemitismus in Politik, Gesellschaft und in den christlichen Bekenntnissen weiterwirkte, sich zum Teil auch neu formierte, überwog diese gestiegene Teilhabe jüdischer Menschen. Eine seit über anderthalb Jahrtausenden massiv diskriminierte religiöse Minderheit konnte das ihr zugewiesene gesellschaftliche Ghetto verlassen und wurde Teil der modernen Industriegesellschaft, die vielfältige neue Möglichkeiten sozialer und geographischer Mobilität, wirtschaftlichen Aufstiegs und kultureller Beteiligung bot. Die Religionszugehörigkeit wurde nur noch als Privatangelegenheit jedes Einzelnen begriffen.

Mit der Wahl des zeitlichen Rahmens ist die Entscheidung für eine bestimmte Perspektive verbunden. Die Geschichtswerkstatt wollte sich nicht ausschließlich auf die Jahre 1933 – 45 beschränken, weil durch einen derartigen Ansatz Juden primär als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und damit als Objekte der Geschichte in den Blick kommen. Vielmehr sollten die Lebenswege jüdischer Menschen in ihrer Vielfalt und Individualität gezeigt und dabei die Aspekte von Selbstbestimmung und eigener Lebensgestaltung betont werden. Nur vor der Folie einer derartigen subjektbezogenen Perspektive lassen sich die Zerstörung der je eigenen Lebensentwürfe, die Schändung der Menschenwürde und die Verweigerung jeglichen Lebensrechtes durch die Verfolgungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands in ihrer Tragweite ermessen.

Der Geschichtswerkstatt war aber auch wichtig, ihr Projekt nicht mit dem Jahr 1945 enden zu lassen; denn die kleine Zahl der Überlebenden begann erneut, jüdisches Leben aufzubauen. Einer der Schwerpunkte wurde aufgrund einer besonderen historischen Konstellation ausgerechnet Bayern und hier besonders München.7 Zwischen 1945 und 1950 kommt es zu einer „Nachblüte“ des osteuropäischen Judentums, die mit der ab 1948 in großem Umfang möglichen Auswanderung der vorübergehend in den westlichen Besatzungszonen lebenden, meistens aus Osteuropa stammenden Juden nach Israel, in die USA oder andere Länder endet. Aber auch danach bleibt eine zahlenmäßig zwar kleine Gruppe von Juden – sowohl deutsche Juden, die z. T. aus der Emigration zurückgekehrt waren, als auch Displaced Persons (DPs), vorwiegend aus Osteuropa – in der Bundesrepublik, die jüdische Gemeinden aufbaut und so wieder jüdisches Leben im „Land der Mörder“ etabliert. Das Projekt endet bewusst in den Siebziger-Jahren des 20. Jahrhunderts, denn die aktuellen Entwicklungen übersteigen den Rahmen eines historischen Projektes.


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